Zivilprozess in den USA
Der Zivilprozess hat in den USA eine grundlegend andere Struktur als in Deutschland, und zwar insbesondere im Hinblick auf das Geschworenengericht (jury), das Beweisverfahren vor der Verhandlung (pretrial discovery) und die Kosten (American rule of costs).
Der VII. Zusatzartikel der US-amerikanischen Verfassung garantiert jedem Bürger der USA das Recht, seine Klage vor einem Geschworenengericht (jury) zu verhandeln. Da die Jury die Entscheidung trifft, beschränkt sich die Tätigkeit des Richters in diesem Fall auf die Belehrung der Geschworenen und die Leitung der Verhandlung.
Eine Jury besteht in der Regel aus sechs bis zwölf Personen. Die Kandidaten werden mittels eines Zufallverfahrens aus Wähler- und Steuerzahlerregistern ausgewählt. Sie sind juristische Laien und treffen ihre Entscheidung mitunter auch aus Sympathiegesichtspunkten.
Die Beteiligung an einem Geschworenengericht ist amerikanische Bürgerpflicht. Die Mitglieder erhalten für ihre Tätigkeit eine geringe Entschädigung. Arbeitnehmer müssen von ihren Arbeitgebern freigestellt werden.
2. Beweisverfahren vor der Verhandlung
Der Zivilprozess beginnt – wie in Deutschland auch – mit der Einreichung der Klage (complaint) beim Gericht. Zur Klageerhebung genügt zunächst eine kurze Darstellung des behaupteten Sachverhalts und der daraus abgeleiteten Ansprüche.
Erst nach der Klageerhebung beginnen die Parteien mit der Ermittlung des Sachverhalts im Wege eines gerichtlichen Vorverfahrens (pretrial discovery). Dieses Verfahren wird zwar unter der Aufsicht des Gerichts geführt. Verantwortlich für Inhalt und Umfang sind jedoch die Prozessparteien selbst. Die pretrial discovery ermöglicht
- Beweismaterial (d. h. Dokumente, bewegliche Sachen und elektronisch gespeicherte Informationen), das sich im Besitz der anderen Partei oder eines Dritten befindet, herauszuverlangen (request);
- die Vorlage schriftlicher Fragen (interrogatories) zur Beantwortung und
- die außergerichtliche Partei- und Zeugenvernehmung (deposition).
(Einzige) Voraussetzung ist, dass das angeforderte Material zur Entdeckung von Beweismaterial führen kann. Aus diesem Grund wird die pretrial discovery mitunter auch als »fishing expedition« kritisiert.
Im deutschen Recht gibt es ein solches Verfahren nicht. Hier kann jede Partei nur die Beweismittel verwenden, über die sie tatsächlich verfügt.
3. Durchgriff auf Beweismaterial ausländischer Konzerngesellschaften
Zur Herausgabe von Beweismaterial sind unmittelbar nur die in den USA ansässigen Prozessparteien verpflichtet. Die Herausgabepflicht umfasst jedoch alle relevanten Unterlagen, die eine Partei in »possession, custody or control« hat. Diese Regelung ermöglicht den US-amerikanischen Gerichten, die Prozessparteien zu verpflichten, Beweismaterial von Dritten (wie bspw. ausländischen Mutter- oder Schwestergesellschaften) zu beschaffen.
4. US-amerikanische Beweishilfe in einem außerhalb der USA geführten Verfahren
Die pretrial discovery kann grundsätzlich auch von einer Prozesspartei initiiert werden, die an einem außerhalb der USA anhängigen Verfahren beteiligt ist. Bei Vorliegen eines entsprechenden Beweishilfegesuchs kann ein US-amerikanisches Gericht eine innerhalb seines Gerichtsbezirks anzutreffende Person verpflichten, zur Unterstützung eines außerhalb der USA geführten Rechtsstreits Unterlagen herauszugeben oder Zeugenaussagen zu machen (§ 1782 (a) der Federal Rules of Civil Procedure).
5. Sanktionen bei Nichtvorlage von Beweismaterial
Legt eine Prozesspartei herauszugebendes Beweismaterial nicht vor, kann das Gericht Sanktionen anordnen, wenn es die Nichtvorlage als Beweisvereitelung wertet (doctrine of spoliation). Mögliche Sanktionen sind
- die Verhängung von Geldbußen;
- der Ausschluss eigener Beweismittel der nichtvorlegenden Partei;
- die Anweisung an die Jury, aus der Nichtvorlage bestimmter Beweismittel den Rückschluss zu ziehen, dass diese einen nachteiligen Inhalt haben;
- der Erlass eines klagab- oder klagstattgebenden Urteils zu Ungunsten der nicht vorlegenden Partei.
Eine Verpflichtung zur Sicherung von Beweismaterial besteht in der Regel ab dem Zeitpunkt, in dem die spätere Prozesspartei Kenntnis von einem bevorstehendem Rechtsstreit hat oder hätte haben müssen. Oftmals wird dem zukünftigen Beklagten vor Prozessbeginn ein sog. preservation letter übersandt. Darin wird dieser augefordert, bestimmte Beweismittel zu sichern.
In Deutschland gilt die Regel, dass die unterliegende Partei sämtliche Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat. Diese Regel kennt das US-Prozessrecht nicht. Jede Partei hat ihre Kosten selbst zu tragen (American rule of costs). Der amerikanische Anwalt rechnet in Stundensätzen zwischen ca. 300 und 600 USD ab. Die Höhe des Gesamthonorars hängt davon ab, wie viele Anwälte in einem Verfahren tätig werden. Da schon die Durchführung des Beweisverfahrens vor der Verhandlung (pretrial discovery) sehr personal- und zeitaufwändig ist, können schnell hohe Honorare entstehen.
Der Kläger hat die Möglichkeit mit seinem Anwalt ein Erfolgshonorar (contingency fee) zu vereinbaren. Vereinbart wird in diesem Fall, dass der Anwalt einen Teil der zugesprochenen Summe (in der Regel zwischen 30 und 40 Prozent) erhält. Das Erfolgshonorar ist jedoch umstritten, da der Kläger kein Kostenrisiko trägt und dadurch auch in wenig aussichtsreichen Fällen zur Klageerhebung ermutigt wird.
Der Beklagte hingegen muss die Kosten seiner Rechtsverteidigung in jedem Fall selbst tragen. Zur Vermeidung von Kosten schließt der Beklagte daher zumeist einen Vergleich (settlement) mit dem Kläger, selbst wenn die Klage wenig Aufsicht auf Erfolg hat. Nur ca. zehn Prozent der Klagen werden mündlich verhandelt.
Seit dem 1. Juli 2008 ist auch in Deutschland die Vereinbarung eines Erfolgshonarars zulässig, wenn der Kläger sonst seinen Anspruch aus wirtschaftlichen Gründen nicht durchsetzen könnte (§ 4a Gesetz zur Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte / RVG).
Nach dem Abschluss der Vorverhandlungsphase folgt die mündliche Hauptverhandlung (trial). Diese findet ohne Unterbrechung »in einem Stück« statt. Sie beginnt – wenn der Fall vor einem Geschworenengericht verhandelt wird – mit der Auswahl der Jury-Mitglieder. Anschließend halten die Parteien ihre Eröffnungsplädoyers (opening statements) und die Beweisaufnahme beginnt. Zeugen werden von den Parteien – auch im Wege des Kreuzverhörs – vernommen.
Die Jury soll vor unsachlicher Beeinflussung – wie bspw. vor Fakten, die ein Zeuge nur vom Hörensagen (hearsay) kennt – geschützt werden. Ist eine Partei der Auffassung, dass eine solche unsachliche Beeinflussung stattfindet, erhebt sie Einspruch (objection). Der Richter entscheidet dann, ob das angegriffene Beweismittel zugelassen wird.
Nach den Schlussplädoyers (closing statements) belehrt der Richter die Jury über ihre Pflichten. Diese trifft ihre Entscheidung (verdict) in der Regel einstimmig.
Ist die Klage erfolgreich, wird der Beklagte in aller Regel zur Zahlung von Schadensersatz (compensatory damages) verurteilt. Dabei soll der Kläger finanziell so gestellt werden, wie er stünde, wenn das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre. Darüber hinaus wird in ca. drei Prozent der Urteile der Beklagte zur Zahlung von Strafschadensersatz (punative damages) an den Kläger verurteilt, wenn der Schaden auf einem »empörenden Verhalten« des Beklagten beruht. Punative damages sollen den Beklagten für sein Verhalten bestrafen und ihn und andere von einer Wiederholung abhalten.
Eine Sammel- oder auch Gruppenklage (class action) ist eine Klage, die von einer Vielzahl von Klägern – einer class – geführt wird. Zu einer class gehören Personen, die gleichartige Rechte oder Rechte aus einem gleichartigen Sachverhalt haben. Das Urteil ist für alle Mitglieder der class bindend, am Prozess selbst sind jedoch nur die sog. Repräsentanten beteiligt, von denen mindestens einer ein Mitglied der class sein muss. Man kann sich jedoch in bestimmten Fällen von der Teilnahme ausschließen (opting-out), bspw. beim Bestehen eines Interesses zur Führung eines eigenen Prozesses.
Die class action hat in den USA eine lange Tradition und spielt insbesondere im Produkthaftungsrecht eine wichtige Rolle. Sie ist jedoch nicht unumstritten, da sie zu Verfahren führt, bei denen es für den Einzelnen um geringe Geldbeträge geht und die ohne die class action wohl nicht geführt würden.